060815

Ich vermisse meinen Papa.

Ich vermisse ihn wegen all der Dinge, die er verpasst und weil ich ihm nicht davon erzählen kann. Ich kann ihm nicht erzählen, dass ich einen Job habe, in dem ich zufrieden bin. Ich kann ihm nicht erzählen, dass ich dabei bin, meine Ängste zu besiegen, dass ich es geschafft habe, alleine in ein fremdes Land zu fliegen und mich dort wohlgefühlt habe.

Es ist nicht dasselbe, wenn ich all diese Dinge anderen erzähle.

Er hatte diese Angewohnheit, mir selbst dann noch zu zeigen, dass er stolz auf mich ist, wenn ich Scheiße gebaut hatte. Diese Eigenart, die mir ohne jeden Zweifel klar gemacht hat, dass ich seine Tochter bin und er zufrieden mit mir ist – auch dann noch, wenn nicht alles glatt läuft. Dann war er sauer über die Situation, hat sie sich weg gewünscht, hat aber nie mich weg gewünscht.

Manchmal erzähle ich ihm in Gedanken, was so passiert. Und dann frage ich mich, ob das dort ankommt, wo auch immer er jetzt ist und ob er überhaupt irgendwo ist, ob tot nicht vielleicht einfach nur tot ist.

Aber in Gedanken erzählen ist nicht dasselbe.

In Gedanken leben reicht ja auch nicht.

291214

Manchmal geschieht so viel auf einmal.
Ich kann mich atmen hören, mein Herzschlag liegt mir im Ohr, zittert in den Knochen.

Jacke reibt über Jacke, fremde Schultern an meinen, Füße scharren. Überall sind Geräusche, Gerüche, Kälte. Ich will euch nicht einatmen, will mich nicht ausatmen und klammere mich erst am Geländer fest, dann an einer Hand.
Wieso strengt mich das Viel so sehr an? Wieso strengt es euch nicht an?

Ich habe mit dem Tag längst abgeschlossen, ich will nach Hause, ich will zu Mama, ich will sterben, aber … Eigentlich will ich leben und nur kurz in meiner Existenz pausieren. Das „Ich will sterben“ liegt mir leichter auf den Lippen und fällt viel schneller heraus, als die Wahrheit es hinter her schafft.

151214

Die Luft riecht nach steigenden Drachen.
Als der Junge nach seiner Gitarre greift, trägt seine Stimme sie weiter nach oben; sie springen, wenn er die Saiten nicht trifft.

Ich kann mir das nicht vorstellen, so zu sein wie er; so angstfrei und lebendig. Zwischen seiner Heimat und ihm liegen tausende Kilometer. Er hat die Stimme seiner Mutter schon solange nicht mehr gehört, dass er ihren Klang vergessen hat. Und als er lauter und lauter singt, sind seine Augen weit weg. Da brennt ein Feuer, an dem seine Freunde sitzen. Eine Weinflasche wird rumgereicht. Wenn er lacht, graben sich Grübchen tief in seine Wangen; selbst im Schweigen bewegen sich dann und wann seine Mundwinkel.

Mein Drachen verfängt sich in sirrenden Stromkabeln. Seiner fliegt taumelnd weiter, obwohl die Schnur längst nicht mehr gespannt ist.

120914

Du marschierst in die Ruinen meines Lebens.
Wie ein Tornado fegst du durch die grauen Überreste und machst aus den Brocken wieder das, was einmal gewesen ist.

Herz im Hals, Pochen im Kopf. In meinem Mund nicht ein Wort, das dir gerecht werden könnte; kein Wort, das genügt.

Es ist nicht nur das, was du tust. Es ist dein Wie.
Unerbittlich, als könne dich nichts aufhalten; was auch immer dir zwischen die Füße gerät: Du stampfst es weg, du trittst es zur Seite und siehst all das Stolpern nicht, das mich schon vor Monaten in die Knie gezwungen hat.

Immer wieder muss ich gucken, ob du noch da bist.

280814


Well, I’m so tired of crying
But I’m out on the road again

Die Sonne brennt mir ins Gesicht, Flimmern auf den Augen, Licht in den Wimpern. Der Sommer stiehlt sich an den Anfang des Herbst; trotzt der Zeit mit blauem Himmel, obwohl der Schatten schon den ersten Winter mit sich trägt.

An solchen Tagen hast du mit den Schlüsseln geklimpert, wie andere mit den Füßen scharren; hast deine Sonnenbrille ausgepackt und mich zum Auto gezogen. Warst ganz kleiner Junge und ich war genervt, weil du es hast aussehen lassen, als wäre der Tag ein besonderer; als käme er nie wieder und wir müssten ihn leben, solange er noch da ist, obwohl doch gestern, heute und morgen nahtlos ineinander übergingen.

An Tagen wie diesen spielte nichts eine Rolle.

In der Sonne roch das Auto nach Leder und Wind, an der Tankstelle mischte sich das Benzin darunter. Lecker nannte ich den Geruch, ganz meine Tochter nanntest du mich und während andere sich Kuchenduft wünschen, schnüffelten wir heimlich und beobachteten die Tankanzeige.

Noch ein bisschen, noch ein wenig, bis die Zahl rund ist und wenn sie ins Schiefe fiel, geht es von neuem los.

An den Straßenseiten standen Bäume und warfen uns ihre Schatten ins Auto, das Verdeck war längst zurückgefahren und alle paar Sekunden wischte ich mir das Haar aus dem Gesicht.
Du drehtest die Musik immer lauter. An den Ampeln starrten Menschen zu uns hinein; wir trugen ein identisches Grinsen.

An Tagen wie diesen spielten wir eine Rolle.

150814

Ich esse Erdbeeren. Vielleicht die letzten in diesem Jahr, vielleicht für immer. Sie sind schon ein wenig sauer; nicht so sehr, als dass sich mein Gesicht nach innen klappen würde, aber genug, um Zunge und Gaumen ordentlich durch zu schütteln und ein Lächeln in den Mundwinkeln zurückzulassen.
Erdbeeren besitzen diese Eigenart, die sie verschwinden lässt, noch ehe Zeit war, sie voll und ganz wahrzunehmen. Ich ess nur eine, vielleicht zwei; eine dritte geht noch und auf einmal ist die Schale leer. Leer bis auf eine kleine Pfütze aus rosarotem Wasser und einem verlorenen Blatt Grün.

Die Tage werden kürzer, die Nächte länger, kälter und klarer. Es gibt zu viel Früher, das ich vermisse und zu wenig Bald, auf das ich mich freue. Und über allem liegt diese diffuse Angst, dieser Zweifel an mir und meinem „Das kann ich“. Oder eben nicht.
Ich bin ein Eigentlich, ein „Ich kümmer mich drum“; solange ein Träumender, bis das Leben mich weckt, obwohl ich viel lieber von alleine aufwache.

Immer öfter denke ich an das weiße Kaninchen. Sein Lied summt durch meinen Kopf, während die Welt an mir vorbei zieht.

140814

Rotglanz auf den Fingerkuppen; Bücher gefüllt mit Verschwiegenheit.

Zwischen Vorhang und Fenster verfängt sich eine Fliege. Ihr wütenden Summen wird immer leiser. Abends liegt sie tot auf dem Fensterbrett.
Das Leben geht viel zu schnell vorbei. Gestern noch hat das Jahr angefangen. Ich kann mich nicht erinnern, wo ich gewesen bin.

Hinter den Worten liegt eine Schwere; Armbruchgewicht in Kopf und Hals, sodass von Anfang bis Ende Tage vergehen; selbst dann steckt noch alles in falschen Fächern, liegt brach auf Staubflächen und macht sich vergessen.

Schreibschmerz. Rien ne va plus, bis die Kugel wieder fliegt.

 

290614

Die Decke riecht nach meinem Dad.
Sie riecht nach dem Waschmittel, das er vor seinem Tod benutzt hat und sie riecht nach dem, was damals in mir zerbrochen ist und nie wieder ganz wurde.

Der dunkelrote Nagellack von Nivea; so teuer, dass es sich dekadent anfühlte, ihn zu kaufen. Und dann warf ich ihn weg, weil er im Licht der Intensivstation wie geronnenes Blut an meinen Nägeln klebte, träge abblätternd; Herbstlack im Hochsommertod.
Die Dunkelheit, die mit zu vielen Stundenkilometern am Auto vorbei raste, während es vor uns schon wieder hell wurde; ein Parkplatz, auf dem ich mich noch mehr verlor und barfuß lief, weil ich wenigstens etwas spüren wollte, um das Sterben in mir nicht zu spüren.
Das ewige Schlafen wollen, um nicht mehr da zu sein; solange ich nicht existiere, hört auch alles andere auf zu sein.

Ich kann mich an diese Kleinigkeiten erinnern, die sich wie Puzzlestücke anfühlen, obwohl ich die Gesamtheit nicht erkenne.
Ich habe das Gesicht des Arztes vergessen, der mir sagte, dass mein Dad nicht wieder aufwachen wird. Er kann jedes Alter und jede Stimme gehabt haben; nichts davon blieb mir im Kopf. Nur die Stille, mit der er auf verzweifelte Scherze antwortete und dass er nicht weg sah, als wir merkten, dass ich gleich weinen werde.
Und daran, dass er mich alleine ließ mit dem Piepsen und Fauchen der Maschinen, mit dem Tropfen und dem Tod, der schon über meinem Dad lag.

Ich weiß, dass sie über mich redeten. Dinge, die man so sagt; so jung, solch ein Schicksal und ob sie das schaffen würde. Meine Distanz zu dieser sie, von der sie sprachen und die nicht ich war, in der ich mich nicht finden konnte.

Ich spüre Abwesenheit meines Vaters wie ein Loch in meinem Sein. Es ist wie ein Teil, der mir fehlt und der nicht wieder kommen wird.
Ohne ihn bin ich nie wieder ganz ich geworden.

Das ist scheiße.

150514

Fieber.
Alles fühlt sich falsch an; verdreht und verzerrt, während mir die seltsamsten Gedanken durch den Kopf spuken.

Die Decke pulsiert; über und auf mir Bewegung. Mein Herz ist in die Zehen gerutscht und lässt sie zucken. Wenn ich einatme, klingt es nach einem Strohhalm, der in ein längst leeres Glas ragt.

Unter der Decke schlagen meine Wimpern bei jedem Blinzeln gegen den Stoff und klingen wie näher kommende Schritte. Wimpernschritte auf Baumwolle, dazu Kältezittern und das Flimmern von Hitze hinter meinen Nasenflügeln.

Ich vermisse diese Abende im Garten, wenn Familie und Freunde nicht länger zu unterscheiden waren und wir zu fest gegen den Federball schlugen. Irgendwer musste immer mehr rennen und schwerer tragen, gefangen zwischen der schmalen Grenzlinie, die darüber entscheidet, ob man am Kindertisch oder bei den Erwachsenen sitzt.

Mein Kopf tut weh.

Meine Gedanken tun weh.

Alles ist wirr. Die Luft löst sich zu schwimmenden Eisbergen.

300414

Zwischen den Tagen entgleiten mir die Worte und fallen in die Lücken zwischen Heute und Morgen, Jetzt und Dann.

Sonnenpunkte flimmern auf Blondhaar, neben mir eine Flasche Bio-Apfelsaftschorle – naturtrüb, ohne Zuckerzusatz. Gesundheit in Flaschen verpackt; die Kohlensäure ist nach zwei mal öffnen verschwunden.

Durch die Zaunmaschen hindurch gähnt ein Abgrund, gefüllt mit Kabeln und Rohren, dahinter grüne Wiese, zwei Bäume, ein Himmel, kein Ende.

Hoch war einfacher als runter. Schwerkraft ist nicht mein Freund. In Gedanken stolpere ich. Ich schlage auf dem Asphalt auf, blute, kann mich nicht mehr bewegen und schwitze in der Sonne.

Der Bus hat mich schon halb nach Hause gebracht, ehe ich wieder stehe.

040414

Ich habe nachgedacht.
So fange ich Sätze gerne an, weil es klingt, als hätte ich wirklich etwas zu sagen – auch dann, wenn es nicht der Fall ist.

Ich habe nachgedacht, aber ich dachte nie zu Ende.
Ich folge einem Hasen durch ein Feld; er springt, schlägt Haken und prescht weiter, aber ich bin kein Jagdhund.

Am besten gefällt mir die Stelle im Buch, in der er seinen Zustand mit Tieren im Scheinwerferlicht vergleicht; sie erstarren, erlahmen und warten darauf, dass die Gefahr vorübergeht.

010414

Draußen gurrt eine Taube
und klingt wie ein erstickendes kleines Kind.

Das Dosensilber zittert auf der Kante, fällt und gibt nach. Überall Zuckersaft. Als das Kissen auf der Fensterbank trocknet, wird es warm. Alles riecht süß und ich denke über Tennisbälle nach.

Ich bin zwei Personen. Ich bin die, die hofft und glaubt und dabei keine Angst hat. Die, die überzeugt ist und auf ein Ziel zu läuft, an das die andere nicht glaubt. Immer wieder wirft sie mir Zweifel vor die Füße, macht mich stolpern, stößt und kratzt mich. Am Ende liegt ein kaputtes Knäuel am Boden und rührt sich nicht mehr.

Als ich mich durch den Flur schleiche, fühle ich mich wie ein Eindringling. Der Hund riecht meine Gedanken und bellt. Auf dem Rückweg bin ich leichter und der Hund schweigt. Telepathiehund. Wenn Hunde Angst riechen können, muss ihm meine Existenz unerträglich sein. Trotzdem drückt er seine nasse Nase in meine Handfläche und guckt treudumm zu mir hoch.

Er weiß zu viel.

Ich mag keine Hunde.

280314

Ich lese eine Buch, das ich schon einmal las.
Damals war ich zwölf und mit über 800 Seiten war es das dickste Buch meines damaligen Lebens.

Mein Dad hatte sein Büro im Keller unseres Hauses. Wenn mir langweilig wurde, schlich ich die Treppen runter und sprang mit einem „Buh!“ um die Ecke. Er zuckte gebührend zusammen, griff sich ans Herz und würdigte mein Schrecktalent.

Sein Büro war ein großer Raum mit einem kleinen Fenster. Im Sommer konnte man die nackten Füße meiner Mutter daran vorbei huschen sehen, wenn sie eine Etage über uns durch den Garten lief und hegte und pflegte, was einige Jahre später einen Preis für seine Schönheit bekommen sollte.
Hier unten waren wir alleine. Niemand kam auf die Idee, in den Keller zu gehen, solange es nicht um eine fertige Maschine Wäsche oder ein Eis aus dem Tiefkühler ging.

Mein Dad und ich hatten unseren eigenen kleinen Kosmos; wir sprachen über Politik und Geschichte, über die Welt und das Morgen.

Aber an diesem speziellen Tag sprachen wir über die Indianer aus meinem Buch. Ich saß versunken in seinem Sessel und wann immer ich eine Stelle nicht verstand, fragte ich ihn. In der Theorie gerbten wir Felle, folgten Spuren im Unterholz und bauten Flöße, bis meine Mutter uns zum Essen rief.

Ich lese ein Buch, das ich schon einmal las, aber in meiner Erinnerung lesen wir es gemeinsam.

260314

Wenn mich jemand mobbt,
stelle ich ein paar ganz einfache Fragen: Sorgst du gerne dafür, dass dein Gegenüber sich schlecht fühlt und Angst kriegt? Magst du es, wenn andere dich fürchten und sich wünschen, zurück in ihr Bett zu kriechen? Fühlt es sich gut an, wenn jemand wegen dir die Tränen unterdrückt?

Meistens schweigt derjenige dann betroffen. Und das ist ja immerhin etwas.

Für mehr „Fehlverhalten bewusst machen“ und weniger „Runterschlucken und Angst haben“.

250314

Lichtblitze, rechts und links,

nicht blinzeln, stillhalten. Rutschen Sie ein Stück nach vorne, nein, das Kinn runter. Ja, so ist es besser.

Ich gucke nach oben und unten, gucke ins Licht und durch die Linse, solange, bis ich das Fremdauge am anderen Ende erkennen kann. Braun mit Goldrand, Wimpernkränze schwarz wie Fingerfarbe. Mein Augenlid zuckt. Erst einmal, dann immer wieder. Ich kann Blickkontakt nicht leiden, finde es beinah unerträglich, wenn jemand nicht mehr weg sieht und konzentriere mich selbst am liebsten auf einen Punkt hinter einer Schulter, auf eine Haarsträhne oder ein Atmen; kurzum: alles sehe ich lieber an als Augen.

Nach der Untersuchung gibt es kein Bonbon, keinen Lolly, kein buntes Pflaster und keine Plastikspritze zum Spielen, dafür eine Rechnung über 20 Euro und eine Broschüre über Hydrogellinsen. Mir wird klar, dass ich gerne ein Bild meines Gehirns hätte. Und ein buntes Pflaster.

230314

Es ist Frühling
und auf dem Balkon weht die Wäsche auf der Leine, der Waschmittelgeruch fließt unter den Türen durch. Zwischen den Häusern stehen zwei kleine Gestalten mit Fuchtelhänden und Lautstimmen; zerzaustes Haar um ihren Köpfen, das sie in eine Buntstiftzeichnung verwandelt. Fetzworte preschen durch die Gassen, ein Katzenkreischen gesellt sich dazu und ich stehe neugierig am Fenster wie eine alte Frau, die keinen Anschluss an ihr Leben findet und sich deswegen die der anderen leiht. Leihleben, Fremdleben – hübsch aneinander gereiht wie die Wäsche im Wind, nur dass sie nicht nach Zuhause riechen.

[…] wenn Küsse weh tun sollen, Lippen springen und Wimpern flattern, weil wir blinzeln und blinzeln – gegen die Sonne und Bruchlicht in Spiegelscheiben. Das Leben ist laut in unseren Körpern. So laut, dass wir Riesen werden müssen, damit die großen Worte nicht zu leise bleiben, obwohl selbst das manchmal nicht reicht.

[…] und wieder ging ein Jahr an mir vorbei; ganz unbemerkt, kein dramatischer Unterton, nur leiser Wehmut und geflüsterte Vorfreude.

Flimmergefühle.

 

210314

Wenn mein Kopf mir Ängste zu ruft und Sorgen dazwischen brüllt,
bringt es ihn nur zum Schweigen, wenn ich ihn überrasche.

Ein Mann sitzt auf einer Bank. Ich auch. Nur nicht auf derselben, denn zwischen die beiden Möbel – von denen ich nicht weiß, ob es Möbel sind, wenn sie nicht in einer Wohnung sondern einer Welt stehen – passt ein kleines Kind. Das habe ich nicht selbst ausgemessen, sondern das kleine Kind, das zwischen den Bänken steht und mich anstarrt. Der Mann auch.

Das Einzige, was meinen Kopf zum Schweigen brachte – heute – war ein laut ausgesprochenes „Ich weiß, ich weiß doch.“

Er war so überrascht davon, dass ich ihn unterbrochen habe und gleichzeitig pikiert, weil ich es wagte, alleine in der Öffentlichkeit laut zu reden, dass er innehielt. Grade lang genug, um mir die Zeit zu geben, die Luft anzuhalten. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was ich las. Es war eine Staatsarbeit, die voller Korrekturfahnen auf meinem Schreibtisch lag; so gespickt mit Fehlern, dass ich verschiedene Vielfarben brauchte. Und doch stand da dieser Absatz, in dem sie erklärt, dass eine Angstsituation durchbrochen wird, wenn man die Luft anhält. Wenn man dem Körper Sauerstoff verweigert und ihm sagt „Hey, du darfst wieder atmen, wenn du dafür die Angst runterschraubst.“

Ich halte oft die Luft an.

200314

In deinen glasigen Augen spiegelt sich die Welt;
eine Glasaugenwelt in Weltglasaugen.

Ich mag es nicht, wenn man das letzte Stück Fleisch in den Mund schiebt, ohne sich seiner Endlichkeit bewusst zu sein; der des Fleisches und der des Seins. Wer weiß, wann das nächste Mal welches auf dem Teller liegt.
Die Zeit zwischen den Mahlzeiten ist so lang wie die Pause zwischen unseren Worten. Das Dazwischen wird mit Geräusch gefüllt, damit das Leer dort in der Ecke bleibt, sich dort zusammenkauert und wir so tun können, als würde es nicht existieren.

Aber es ist ein geduldiges Leer, ein wartendes, das uns überdauern wird.

In dem weißen Styroporkarton schwimmt eine braune Pfütze. Ich stochere mit der Plastikgabel darin herum und suche nach meiner Zukunft. Alles, was ich finde, ist ein kleines Stück Lauchgrün in Sojabraun auf Plastikweiß und ich drücke dagegen, bis es knackt. Ein weißer Zacken schwimmt in der Pfütze.
Unter dem Styropor breitet sich das Braun aus, aber als ich meine Hände vor das Gesicht lege, verschwindet es wieder; zusammen mit meiner Zukunft.

091013

Die Luft schmeckt nach Regen und auf meinen Lidern liegt Schlaf. Ich frage mich, wie sehr dein Tag sich von meinem unterscheidet; meiner von seinem und ihrem. Ich frage mich, wie sehr die Entscheidung des Aufstehfußes den Rest beeinflusst und ob die roten Zahnpastastreifen mein Leben verändern werden.

Wenn ich einatme, kann ich die Stadt auf den Lippen spüren, bis sie mir am Gaumen klebt und mich würgt, erstickt, mich blockiert mit ihrer Fremde.

Im Winter kommt eine neue Masse Mensch und ihr Gesicht ist grau. Wenn das Glas beschlägt, spür ich den Nebel im Kopf, mir steigt das Rot in die Wangen und dein Brustkorb hebt und senkt sich in meinem Rücken. Hohlkreuzferne liegt zwischen uns und ist nie genug.

Wie immer starre ich auf den roten Hammer am „Hier einschlagen“-Fenster und denke darüber nach, wie die Scheibe wohl stirbt. Regnet es Splitter? Sind es Scherben? Große Glasstücke, die trocken auseinander getrieben werden oder Pulverschnee, der sich mit dem Draußendreck mischt?

Manchmal liegt nur ein Scheibentod zwischen atmen und ersticken.

210813

Ins Bett gehen.

Schlafen.

Aufwachen.

Aufstehen und unter die Dusche gehen.

Leben. Viel Leben leben. Alles leben.

Von vorne.

Ich könnte kaum zufriedener sein mit mir und meinem Leben.

Das macht mich glücklich.